Antisemitismus als justizielle Herausforderung
Recht ist ein wichtiges Instrument, um Antisemitismus zu bekämpfen. Es ist aber auch ein zweischneidiges Schwert. Einerseits erhebt Recht einen egalitären und inklusiven Anspruch und verspricht Schutz vor Gewalt und Diskriminierung. Andererseits kann es als Mittel antisemitischer Ausgrenzung genutzt werden. Somit ist das Schutzversprechen bedingt: Es ist an Begriffe und Prämissen gebunden. Nur solche gesellschaftlichen Phänomene, welche von Akteur*innen des Rechts erkannt und anerkannt werden, können mit Mitteln des Rechts bekämpft werden. Zentral ist daher ein realistisches und komplexes, den Dynamiken und Kontinuitäten diverser Erscheinungsformen von Antisemitismus gerecht werdendes rechtliches Verständnis. Rechtsbegriffe und normative Konzepte sind jedoch in bestimmten Kontexten entstanden und können selbst auf Vorurteilen beruhen oder diskriminierende Verengungen enthalten. Wenn die Justiz etwa dynamische Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse nicht in den Blick nimmt, sondern Antisemitismus auf Phänomene mit einem historischen Bezug zum Nationalsozialismus begrenzt oder exklusiv in bestimmten sozialen Gruppen verortet, kann das Versprechen des Rechts in Schutzlosigkeit oder gar sekundäre Viktimisierung umschlagen.
Wie begegnet die Justiz den vielfältigen Erscheinungsformen des Antisemitismus?
Wie erfasst die Justiz die Phänomene des Antisemitismus und mit welchen Schwierigkeiten sieht sie sich dabei konfrontiert? Die justizielle Praxis bezüglich antisemitischer Vorfälle und damit die Bekämpfung von Antisemitismus durch die Justiz sind bislang wissenschaftlich kaum untersucht. Anhand systematischer Bestandsaufnahmen des Umgangs der Justiz mit Antisemitismus verbunden mit der Frage nach den von der deutschen Justiz verwendeten (Rechts-)Begriffen von Antisemitismus sollen diese wissenschaftlichen Erkenntnislücken geschlossen werden. Die Justiz stellt jedoch kein homogenes Gebilde dar, sondern bildet mit ihren ausdifferenzierten Fachgerichtsbarkeiten und Verfahren komplexe institutionelle Rahmen, in denen verschiedene Beteiligte jeweils eigene Rollen spielen. Um dieser Vielschichtigkeit angemessen zu begegnen, werden die einzelnen Teilrechtsgebiete Strafrecht, Zivilrecht, Verwaltungsrecht und Grund- und Menschenrechte getrennt voneinander untersucht. Gleichzeitig sollen damit Besonderheiten und Ähnlichkeiten zwischen diesen Rechtsgebieten aufgezeigt werden.
Konkret stellen sich folgende Fragen: Wie begegnet die Justiz den Herausforderungen der vielfältigen Konzepte und Verständnisse von Antisemitismus? Zeigen die im Zusammenhang mit der rechtlichen Erfassung von Antisemitismus lebhaft geführten Methodendebatten lediglich eine Verweigerungshaltung? Oder weisen sie innovativ auf die Notwendigkeit transdisziplinärer Fundierung von Rechtsdogmatik hin? Welche Rolle spielt ein spezifisches Verständnis staatlicher Verantwortung im Lichte der deutschen Vergangenheit? Inwieweit trägt die Justiz dazu bei, Antisemitismus einzudämmen? Welchen Hindernissen begegnen die Gerichte, wenn sie Antisemitismus adressieren? Und wie können diese Schwierigkeiten überwunden werden?
Jüdische Perspektiven
Die justizielle Praxis wird aus einer transdisziplinären und insbesondere justizsoziologischen Perspektive betrachtet. Die häufig vernachlässigte Betroffenenperspektive spielt dabei eine zentrale Rolle. Wie erfahren betroffene Jüdinnen und Juden den justiziellen Umgang mit Antisemitismus? Ebenso sollen die Erfahrungen von Staatsanwaltschaft, Anwaltschaft und Richterschaft miteinbezogen werden.
Dialogorientierter Austausch
Ziel ist es, aufbauend auf diesen multidimensionalen Perspektiven, anwendungsorientierte Handlungsoptionen für die juristische Ausbildung zu erarbeiten. Diese sollen in engen Kommunikationsprozessen mit und für die Justiz entwickelt, aufbereitet und zur Verfügung gestellt werden.
Das Verbundprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie
„Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“ für drei Jahre gefördert (August 2021 bis Juli 2024).